#Autokorrektur reloaded
Eine besondere Stelle im aktivistischen Jahresrückblick gehört natürlich der Besuch von Katja Diehl mit ihrem heiß diskutierten Spiegel-Bestseller “Autokorrektur”. Ende Oktober kam sie ins JuZe Rösrath, wo wir ein sehr ausgiebiges Autorengespräch mit ihr führen durften.
Rösrath ist nun mal nicht der Nabel der Welt und eine Bestsellerautorin und Leserpreis-Gewinnerin des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises verirrt sich nicht alle Tage zu uns ins untere Sülztal.
Für Rösrath Velo City als immer noch sehr junge Initiative war diese Veranstaltung ein echtes Highlight und gleichermaßen das Jahresprojekt 2022. Seit Beginn des Jahres hatte ich mich um das Booking bemüht, nach einem geeigneten Veranstaltungsort gesucht, Vorverkauf und Promotion organisiert, Texte geschrieben und Plakate geklebt und möglichst allen irgendwie fahrrad-affinen Personen davon erzählt.
Der Lohn dieser monatelangen Arbeit war eine gut besuchte, informative und kurzweilige Veranstaltung in angenehmer Atmosphäre. Die lokale Presse war ebenso anwesend wie die Rösrather Bürgermeisterin Bondina Schulze, die sich einige Notizen machte und im Anschluss noch länger mit der Autorin zusammensaß.
Im Kölner Stadtanzeiger erschien kurz darauf eine gleichermaßen positive wie zutreffende Zusammenfassung der Veranstaltung. So weit, so gut – könnte man wenigstens meinen.
Denn alles, was Katja Diehl in ihrem Buch und ihrer digitalen wie persönlichen Präsenz beschreibt, dient ja eigentlich einer menschenzentrierten Mobilität und Stadtplanung. Die Missstände, auf die sie hinweist, sind so real wie absurd und sollten eigentlich jedem gesunden Menschenverstand von selbst einleuchten.
Unsere fast schon krankhafte Zentrierung des öffentlichen Raums auf die Bedürfnisse des automobilen Verkehrs nimmt Städten wie ihren Menschen regelrecht die Luft zum Atmen. Sie verhindert, dass Kinder sich selbstständig und angstfrei in ihrer Welt bewegen können und sie schließt 13 Millionen Deutsche (Erwachsene) ohne Führerschein mehr oder weniger konsequent aus.
Allein in meiner Lebenszeit hat sich die Zahl der Autos in Deutschland verdoppelt – auf nun knapp 50 Millionen. Würden alle Deutschen gleichzeitig einsteigen, blieben die Rückbänke komplett frei und eine ganze Menge an Beifahrersitzen auch. Diese immer größer werdenden Autos stehen 23 Stunden am Tag herum, oft genug auf öffentlichem Grund. Sie versperren Bürgersteige (Beispiel Hoffnungsthal) und nehmen auch sonst ungefragt jeden erdenklichen Platz ein.
Werden die tonnenschweren Vehikel dann einmal bewegt, dann im Durchschnitt nur von 1,2 Personen und in der Hälfte der Fälle für weniger als 5 km. Also nicht gerade ein Musterbeispiel für die hochgelobte deutsche Effizienz.
Man muss nicht weit schauen, um die Auswüchse dieser außer Rand und Band geratenen “Kultur” anzutreffen. Hoffnungsthal ist ein überdimensionierter Parkplatz, Forsbach eine bessere Durchgangsstraße und von Downtown Rösrath wollen wir an dieser Stelle besser nicht sprechen. Es braucht schon ein gehörig dickes Fell und gutes Noise Cancelling, um sich länger als unbedingt notwendig im “Zentrum der Stadt” aufzuhalten.
Trigger Warning
Es ist seltsam, dass wohl kaum jemand diesen Beobachtungen widersprechen wird, andererseits aber mit höchster Entrüstung reagiert wird, wenn es jemand wie Katja Diehl wagt, die mannigfaltigen Privilegien des motorisierten Individualverkehrs (MIV) in Frage zu stellen.
Man(n) zieht sich dann an ihrer Person hoch und an dem, was andere über sie meinen, sucht penibel nach handwerklichen Fehlern, stört sich natürlich an den “alten weißen Männern” und macht jede Menge Nebenkriegsschauplätze auf.
Der für Rösrath zuständige ADFC RheinBerg veröffentlichte im November eine mit reichlich Hörensagen gespickte “Rezension” des Buchs und Generalkritik seiner Autorin.
Und auch auf einen wütenden Leserbrief im Kölner Stadtanzeiger mussten wir nicht lange warten:
Katja Diehl “triggert”, wie es neudeutsch heißt, vielleicht will sie Reaktionen dieser Art sogar provozieren, vielleicht muss sie.
Und wer triggert und provoziert, muss natürlich auch mit Kritik umgehen können. So wie die Kritiker in der Folge mit einer Replik umgehen können müssen. Das ist beste akademische Manier.
Das Buch richtig verstehen
Allerdings scheint von Katja Diehl erwartet zu werden, dass sie eine Art eierlegende Wollmilchsau für das deutsche Verkehrswesen im Allgemeinen vorlegt – und eine Patentlösung für Rösrath im Speziellen.
Das ist jedoch weder der Anspruch, noch überhaupt die Aufgabe des Buchs. Frau Diehl weist zunächst mit spitzer Zunge und durchaus humorvoll auf Missstände und Widersprüchlichkeiten unserer Mobilität hin. Und vor allem diese spitze Zunge ist es wohl, die die eine oder andere Wunde aufreißen lässt.
Und in ihren (zuweilen vielleicht utopischen) Vorstellungen muss sie sich auch nicht an die geltenden Vorschriften halten. Im Gegenteil brauchen wir ja jemanden, der uns die vielfältigen Möglichkeiten einer Welt aufzeigt, in der eben der Mensch und nicht das Auto im Zentrum des öffentlichen Raums steht.
Wenn die derzeit geltenden Verordnungen wie StVO, ERA oder RASt das nicht hergeben und eine Transformation blockieren, dann sind die Gesetze entsprechend anzupassen und dringend zu modernisieren.
Wenn man sich so sehr ärgert wie die beiden Kommentatoren, dann geht es zunächst natürlich eher darum, Druck abzulassen und die (vermeintlich) falsche Position gerade zu rücken. Denn etwas ruhiger betrachtet würden die beiden Herren selbst einsehen, dass dem Automobil auch in Rösrath deutlich zu viel Platz eingeräumt wird.
Sie würden wohl eingestehen, dass Rösrath vor 30-40 Jahren deutlich lebenswerter war, die Wohnviertel noch ausgedehnte Spielplätze, die Ortszentren noch nicht zugeparkt. Sie müssten ebenso zugeben, dass die Masse an Verbrennern eine bedenkliche Zunahme von Atemwegserkrankungen mit sich bringt, für deren Kosten letzten Endes die Gemeinschaft aufkommen muss. Dass durch den massenhaften Abrieb von Reifen jede Menge Mikroplastik in die Umwelt gerät, welches schließlich auch den Weg in ihren eigenen Organismus findet.
Sie würden ohne jeden Widerspruch einräumen, dass nicht nur der Sommer 2022 extrem zu trocken und nicht nur das ganze Jahr 2022 wiederum zu heiß war. Was übrigens keinen Widerspruch, sondern eher einen Zusammenhang mit der Flutkastastrophe im Sommer 2021 darstellt.
Aber was hat das mit Katja Diehl und Autokorrektur zu tun?
Insbesondere der Verkehrssektor reißt durchweg sämtliche Klimaziele. Da ist es eigentlich selbstverständlich, dass man die äußerst ineffiziente Nutzung tonnenschwerer Fahrzeuge kritisch hinterfragt. In diesem Zusammenhang von “Fahrradlobby” zu sprechen, ist schon ziemlich frech. Ist es doch im Gegenteil die milliardenschwere Autolobby, die seit Jahrzehnten die Mobilität in Deutschland diktiert.
Nach dem Autogipfel ist vor dem Autogipfel
Heute, Dienstag 10. Januar 2023, findet im Kanzleramt der x-te Autogipfel statt. Heißt unter Klimakanzler Scholz zwar Mobilitätsgipfel, ist aber weitestgehend alter Wein in neuen Schläuchen.
Eine Verkehrswende ist daher ebenso dringend notwendig wie leider weiterhin nicht absehbar. Und für eine Verkehrswende, die den Namen auch verdient, braucht es eben eine Autokorrektur. In dem Sinne, dass das Auto wenigstens einen Teil seiner vielen Privilegien (nicht Rechte) zugunsten einer emissionsfreien Nahmobilität abgeben muss.
In diesem Zusammenhang das kleine Rösrath mit dem großen Paris zu vergleichen, ist keinesfalls anmaßend, sondern nur Ausdruck jener Fantasie, die den verantwortlichen Akteuren hier vor Ort leider zu oft fehlt.
Die überwiegende Mehrzahl der Rösrather:innen lebt nun mal nicht in Breide, sondern in den drei großen Stadtteilen, zwischen denen man sich sehr gut mit dem Fahrrad, mit dem E-Bike oder (wie in der guten alten Zeit) sogar zu Fuß bewegen kann.
Das volle Bild sehen
Tatsächlich gab es neben den zuvor dargestellten Kommentaren auch zwei Briefe, die es aus unterschiedlichen Gründen leider nicht in den Stadtanzeiger geschafft haben:
Ihr vergesst die Alten!
Immer, wenn es um eine Verkehrswende geht, werden die Alten und Fußkranken aus der Kiste gezaubert.
Es stimmt, wir leben in einer zunehmen alternden Gesellschaft und die Ängste und Sorgen dieser Bevölkerungsgruppe dürfen nicht außer Acht gelassen werden.
Keinem Verkehrsaktivisten geht es darum, ältere Menschen von Mobilität und gesellschaftlicher Teilhabe auszuschließen. Im Gegenteil: Gerade Katja Diehl versteht sich als Sprachorgan all jener, die mangels Führerschein oder späterer Fahruntüchtigkeit nicht mehr am motorisierten Individualverkehr teilnehmen können.
Tatsächlich ist die große Mehrheit der Rösrather:innen glücklicherweise nicht fußkrank, sondern unterliegt vielleicht nur der Macht der Gewohnheit und den Versprechungen der Autoindustrie. Vielleicht würden sie ja sogar gerne öfter mit dem Fahrrad unterwegs sein, fühlen sich aber schlicht nicht sicher.
Was nicht heißt, dass man sich als Stadt nicht um die schwächeren Verkehrsteilnehmer:innen kümmern sollte. Im Gegenteil. Und das wird ja auch durchaus bereits getan.
Schon seit 2015 fährt der Rösrather Bürgerbus (RöBus), von Bürgern für Bürger. Mit viel Aufwand und Herzblut, Sponsoren, politischer Unterstützung und ehrenamtlichen Fahrern. Nur meistens leider leer.
Zum 31. März des neuen Jahres wird das Angebot allerdings eingestellt. Es mangelt an Nachfrage.
Und was ist mit den Jungen?
So wie die Jungen die Alten vergessen, so vergessen die Alten ebenso oft die jungen Menschen.
Was ist mit ihren Rechten, ihren Freiheiten und ihrer Zukunft?!
Haben Rösrather Kinder noch die Möglichkeit, ihre Lebensumgebung selbstständig zu entdecken? Oder erleben sie die Welt nur noch vom Rücksitz des Elterntaxis?
Vielleicht würden ihre Eltern sie durchaus lieber zu Fuß zur Schule schicken…scheuen aber angesichts des horrenden Verkehrs davor zurück und fahren sie dann doch lieber auch mit dem SUV. Was den Verkehr wiederum nur erhöht.
Wer tritt für diese Generation ein, so wie es sogar das Bundesverfassungsgericht fordert?!
Eine zukunftsfähige Mobilität wird einfach nicht funktionieren, ohne dass man den Raum des Automobils etwas eingrenzt und auf ein gesundes Maß zurückstutzt. Das ist dann auch kein Autohass, sondern schlicht die überfällige Autokorrektur.
Nicht mehr und nicht weniger fordert Katja Diehl mit ihrer Arbeit.